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Lo Man Kam

Die "Unbesiegbare-Kunst" des Wing Chun
Ein Treffen mit Lo Man Kam

 

Taipeh mag als eine der asiatischen Städte gerühmt werden, in der jedermann akzeptiert, dass selbst der Steuereintreiber ein Kung Fu Meister ist. Um solche Überraschungen zu erleben muss man dort gewesen sein.

Taiwan, genannt der "aufgehende Drache", folgt den Fußspuren des Landes 'der aufgehenden Sonne' - Japan. Der "Rising Dragon" orientiert sich sehr nah an seinem Vorbild Japan. Vor allem im wirtschaftlichen Bereich erhebt sich der Drache, um die Sonne zu erreichen, Traditionen werden dabei in den Tälern hinter sich gelassen.

 

Opportunisten drängen vorwärts in ihrer gepflegten, materiellen Welt und westliche Philosophien überragen traditionelle Konzepte in den Köpfen der Jugendlichen. Moderne Chinesen haben wenig Zeit für Traditionen: diese stehen dem rapiden Fortschritt im Weg. Die Jugendlichen lernen viele Stunden am Tag, weil gute Noten dienlicher sind, um eine höhere Schulbildung zu erlangen. Dann hat man natürlich nicht genügend Zeit um etwas zu studieren, dass nicht im Lehrplan enthalten ist, wie z.B. Kung Fu. Fremde, die chinesisches Kung Fu studieren wollen, verblüffen die Chinesen völlig. Dass jemand diesen langen Weg auf sich genommen hat, um in Taiwan Kung Fu zu studieren, wird häufig mit einem fast mitleidigen Lächeln bedacht. Geschäftliches Management erhält wesentlich größeren Respekt. Das ist Fortschritt.

Doch die Kampfkünste finden sich noch immer im Wirrwarr der Moderne. Kung Fu lebt noch immer und es lebt gut. Es können immer noch Meister gefunden werden, die in Parkanlagen oder auf der Straße Kung Fu unterrichten. Die Anzahl der Schüler mag in den letzten Jahren abgenommen haben, aber der Enthusiasmus ist offensichtlich der gleiche wie früher geblieben.

Ein solcher Meister, dessen Gesicht vor Enthusiasmus zu glühen beginnt, wenn vom Kung Fu gesprochen wird, ist Meister Lo Man Kam.

Sein schmaler Körper und das gepflegte Benehmen täuschen über seine Fähigkeit hinweg, einem Menschen im Bruchteil einer Sekunde überwältigen zu können. Über 39 Jahre Praxis in der Kunst des Wing Chun Kung Fu's haben Meister Lo´s Stil perfektioniert. Sein erster Kontakt mit dem Kung Fu fand bereits im Alter von 13 Jahren in Foshan statt. Er studierte hier verschiedene Stile. 1950 begann sein Onkel, Großmeister Yip Man, ihn in der Kunst des Wing Chun Kung Fu zu unterrichten. Sifu Lo ist genauso wie sein früherer Trainingspartner Bruce Lee, ein Meister, der versucht, die Kunst des Kämpfens weiterzuentwickeln. Er sucht immer nach Wegen, das System, genau wie seine Trainingsmethoden, zu perfektionieren.

Sifu Lo unterrichtet in seinem Haus und der darüber liegenden Schule. Der Raum ist angefüllt mit Trainingsgeräten, die von ihm selbst entwickelt wurden. Die Schüler tragen keine Uniformen oder Schärpen. Jeder hat großen Respekt vor den Fähigkeiten des anderen. Die Schüler kommen aus Europa, Asien und Amerika, um unter dem berühmten Meister zu trainieren. In einem Dunst von Schweiß trainieren sie in Kung Fu Hosen oder Shorts; es könnte eine Szene aus einem Rocky Film sein.

Sifu Lo trainiert all seine Schüler individuell. Er sagt: "Das direkte Lernen des Schülers vom Lehrer ist der einzige Weg, um die Fähigkeiten des Einzelnen so zu fördern, dass er seinen eigenen Weg finden kann." Außerdem erzählt er: "Das Praktizieren in der Gruppe oder ein festgelegtes Partnertraining ermöglicht nur einen Block von einem Schlag zu separieren, verhindert aber den Gebrauch des Gefühls." Sifu Lo spricht über seine Trainingsmethoden wie über das Erlernen einer Sprache.

"Ich vermittele Dir das Alphabet, einige Worte und Grammatik. Du benutzt Dein Gefühl um Sätze zu bilden. Ich bringe Dir bei, zu blocken und zu schlagen und führe Dich in die richtige Richtung, aber wie Du es später gebrauchst, bestimmst Du selbst."

Die Grundlagen werden durch die Formen vermittelt. Das Wing Chun System ist unterteilt in drei Handformen: die Holzpuppenform, den Langstock und die Schmetterlingsmesserform.
Die erste Form vermittelt die für das Wing Chun wichtigen Basistechniken und Konzepte. Die zweite Form arbeitet mit Distanzen und Brückentechniken, um Kontakt am Gegner zu finden. In der dritten Form wird gezeigt, wie die Geschwindigkeit der Finger genutzt wird. Gleichzeitig wird der Gebrauch des gesamten Arms bis zu den Fingerspitzen vermittelt.

Viele Personen halten die Holzpuppenform fälschlicherweise für das Rückgrat des Wing Chun. Sifu Lo sagt dazu: " Ein menschliches Wesen ist kein Stück Holz."

Bevor ein Schüler in der nächsten Form unterrichtet wird, stellt Sifu Lo sicher, dass der Schüler in der Lage ist, alle Techniken der vorangegangenen Form zu einem kontinuierlichen Fluss in einer Kampfsituation zu kombinieren. Um dies zu ermöglichen erlernen die Schüler eine Art des Sparrings, das Chi Sao, das im Deutschen "klebene Hände" genannt wird.

Chi Sao ist eine schnelle Übungsform: Zwei Personen, die an Handgelenken und Armen Kontakt haben, führen, mithilfe der Techniken aus den Wing Chun Formen, konstant und spontan Angriffe und Verteidigungen aus. Durch den Kontakt kann der Schüler die gegnerische Energie spüren und seine Bewegungen darauf ausrichten. Das Verständnis, dass durch diese Art des Trainings für das Gefühl geweckt wird, bringt dem Schüler im Kampf die Überlegenheit. Ein bekanntes Wing Chun Sprichwort sagt: "Jede Bewegung (ob angreifend oder verteidigend) überholt die des Gegners."

Chi Sao hilft aber nicht nur Techniken der Form zu üben, sondern lehrt auch richtiges Kämpfen und Verteidigen. Das ist anders als "passives Kung Fu", bei dem Formen in Demonstrationen lediglich imposant aussehen, aber für den realen Kampf völlig ungeeignet sind, weil es an praktischer Erfahrung völlig fehlt.

Man benötigt viele Jahre Chi Sao-Training, um eine hohe Entwicklung des Gefühls und der Sensibilität zu erlangen. Um die Entwicklung zu beschleunigen praktizieren einige Schüler das Chi Sao mit verbundenen Augen. Dies erlaubt ihnen, das Gefühl auf ein Level zu erheben, wo das Denken, beinflusst durch das Sehen, völlig ausgeschaltet wird, da die Augen keinerlei Informationen an das Gehirn weitergeben. Jede Aktion des Schülers wird dadurch ausschließlich durch das innere Gefühl bestimmt.

Chi Sao ist keine Übung, die auf dem Prinzip "Kraft gegen Kraft" basiert. Es lehrt den Schüler die Kraft des Gegners auszunutzen und umzukehren. Eine scheinbar verlorene Verteidigung bedeutet noch keinen geschlagenen Mann, die eigentliche Arbeit liegt nämlich im Angriff. Sifu Lo redet vom Wing Chun als einer "Unbesiegbaren Kunst".

"Wing Chun ist wie die Figur der Zahl 8, sie ist unendlich und kann ständig fortfließen. Es sind keine unterbrochenen Bewegungen mit einem Anfang und einem Ende, wie etwa bei der Figur der Zahl 4."

"Es ist dieses kontinuierliche Fließen und Fühlen, das Gefühl von Dir und Deinem Angreifer, das dich zu Deiner nächsten Technik führt." Das ist es, was Wing Chun zu einer so ungeheuerlichen Kunst werden lässt.

Skeptiker mögen argumentieren, dass Straßenkämpfe nicht mit solchen Arm- oder Handkontakten beginnen. Das ist wahr, aber die zweite Form des Wing Chun (Cham Kiu) vermittelt die Techniken um die Brücke schlagen zu können von "Nicht-Kontakt-Haben" zu "Kontakt-Haben". Ein Schlag oder eine Abwehr bringt den Kontakt. Ab diesem Zeitpunkt hat man sein Gefühl und damit automatisch das Chi Sao.

Im Training bringt Meister Lo seinen Schülern bei, möglichst unterschiedliche Kampfsituationen bewältigen zu können, anstatt sich im Training gegenseitig Konkurrenz zu machen. Es ist zum Beispiel unnütz, Schülern beim Sparring zuzuschauen, wenn einer der beiden mit dem Rücken an der Wand steht.

"Wir wissen nicht, woher die Angriffe kommen, somit müssen wir in der Lage sein mit jeder Situation umgehen zu können"

Sifu Lo fühlt sich verpflichtet, alles zu lehren - es gibt keine zurückgehaltenen Geheimnisse. Er wünscht sich, dass seine Schüler besser werden als er und freut sich, wenn ein Schüler es schafft, ihn im Training zu schlagen - wann immer sie es können.

Er sieht seine Schüler als eine Art Familie.

"Natürlich wünscht ein Vater, dass sein Sohn besser wird als er selbst. Wie kann ein Vater sagen, Du musst etwas schlechter machen als ich selbst."

Sifu Lo Man Kam ist ein warmherziger Lehrer, der in Parabeln lehrt. Diese Parabeln enthalten eine real philosophische Wahrheit, die zu verstehen helfen wie Techniken funktionieren, was Wing Chun ist und welchen Weg man gehen muss. Es ist offensichtlich, dass Kung Fu sein Leben ist.

Mit diesen Einführungen von Meister Lo berühre ich lediglich einen kleinen, grundlegenden Teil des kompletten Wing Chun Systems. Sifu Lo´s Schule ist für alle offen, die ein ehrliches Interesse am Erlernen des Wing Chuns haben. Seine Schule befindet sich in: Pa-Te-Road, Section 3, Lane 12, Alley 51, No 31, 4 Fl, Taipee, Taiwan

(Originalbericht im Englischen von Robert S. Smith)